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Johannes Agnoli
Die Transformation der Linken
Der Lange Marsch von der Kritik des Politischen zum Glauben
an den Staat. Ein Versuch über Dritte Wege, den Weltmarkt und die
Aktualität der Utopie
Politiker werden kritisiert. Das gehört zum normalen
Alltagsgeschäft der Öffentlichkeit und legitimiert sich
durch die zahlreichen Fehlleistungen von Regierung und öffentlicher
Verwaltung, durch italienische und französische
Korruptionsfälle, neuerdings deutsche. Diese Kritik, mag sie
auch notwendig sein, verstellt indes die Sicht auf das Wesen der
Politik: Politik als System der Machteroberung, Erhaltung und
-ausübung. Von diesem wirklichen Sinn, also von der
institutionellen, teils konstitutionellen Form der Staatlichkeit, in
die sich gesellschaftliche und ökonomische Herrschaft übersetzt,
geht der nun folgende Text aus.
Aufgefordert, meine vor Jahren begonnene, noch nicht zu Ende
gekommene Kritik der Politik fortzuschreiben, das heißt, das
kritische Geschäft von der Kritik der politischen Ökonomie
und der kapitalistischen Produktionsweise weiterzutreiben zur Kritik
des Zwangscharakters der gesellschaftlichen Reproduktion und deren
"Zusammenfassung" in der Form Staat (Marx), sehe ich mich
in der gegenwärtigen Lage mit einer entgegengesetzten Tendenz
konfrontiert. Sie wirkt vor allem bei den gesellschaftlichen
Bewegungen, Gruppierungen, teils auch Organisationen, die vormals
radikale Veränderungen und Emanzipation anstrebten: Die ehemals
emanzipatorische Linke läßt offensichtlich in der
Ausweglosigkeit der eigenen Verstrickung mit der veränderten
Wirklichkeit die Hoffnung fahren. Es stellt sich aber keine gemeine
Resignation ein, noch zieht sich die Linke in privatisierte Nischen
zurück. Vielmehr bleibt sie aktiv, ändert nur die Position,
sagt dem früheren Standpunkt Lebewohl, drängt sich zur
institutionellen Macht, macht sich selber zum Staat und wird -
sozialdemokratisch.
Das Nachdenken soll diesem veränderten Bewußtsein
gelten, das sich inzwischen vom kritischen Geschäft entfernt und
nunmehr in die Staatlichkeit zurückgefunden hat. In den Mitteln
des Staates sucht es das Heil gegen die Auswüchse des weltweit
ausgebrochenen Neoliberalismus. Angesichts dieser Auswüchse, die
zu einer verschärften Kritik an der siegreichen Produktionsweise
und an deren politischer Organisation hätten führen sollen,
findet sich auf der linken Seite des wieder einheitlich gewordenen
Landes nur mehr das Gegenteil.
Derart orientiert sich die Linke, ungeachtet der globalen
Wirklichkeit, umkreisgebunden am vorhandenen Staat. Er soll nicht
mehr abgeschafft, vielmehr in seinen besten Teilen ausgebaut werden.
In diesem ordentlich verfassten Staat möchte sie, zusammen mit
den etablierten Führungsgruppen, einen sozioökonomischen
"Dritten Weg" einschlagen.
Zunächst eine Erinnerung, ohne finstere Hintergedanken. Der
Dritte Weg tauchte zum ersten Mal in Italien Anfang der dreißiger
Jahre auf, verkündet durch eine bekannte, nicht sehr erfreuliche
historische Persönlichkeit.
Als Mussolini den Faschismus als Dritten Weg zwischen Kapitalismus
und Kommunismus bezeichnete, klang es innovativ. Von der Sache her
handelte es sich um einen reinen flatus vocis, einen Wortfetisch.
Dabei hatte die Parole durchaus einen gesellschaftspolitischen Sinn.
Es galt, eine nicht gerade kapitalfreundliche Industriearbeiterschaft
und eine ebenso latifundienfreundliche Landarbeiterschaft in die
"neu" genannte Ordnung zu integrieren - und nicht zuletzt
der Drachensaat entgegenzuwirken, die, vom Hegelianer Ugo Spirito,
dem Privateigentum an Produktionsmitteln abhold, gesät, in der
studierenden Jugend sich der Beliebtheit erfreute- , daß der
Faschismus keineswegs einen Dritten Weg gehen sollte, vielmehr läge
seine geschichtliche Aufgabe in dem Projekt, den Bolschewismus
"aufzuheben"- durchaus im hegelschen Verstande des Wortes.
Heute aber, da die traditionelle Entgegensetzung
Kapitalismus-Kommunismus hinfällig geworden, erhält der
Dritte Weg einen ganz anderen Sinn, denn die Frage ist, was als das
Entgegengesetzte des losgelassenen Kapitals und der
liberaldemokratischen Euphorie in der Gegenwart stehen soll. Ist der
Gegenpol der verfasste Staat der Bundesrepublik und der in Europa
sogenannte Rheinische Kapitalismus? Da scheint die Sache nicht recht
zu stimmen, denn man wüßte nicht, warum die Wirklichkeit
der Bundesrepublik in einem diametralen Gegensatz zur - eigenen
Wirklichkeit stehen sollte. Nein, gegenüber der neoliberalen
Wirklichkeit kann ich mir nur eine utopische, dennoch richtige,
obzwar unmöglich scheinende Theorie der Emanzipation denken: die
Assoziation der Freien und Gleichen. Der Dritte Weg indes verläuft
irgendwo zwischen jener Wirklichkeit und diesem Traum. Die Linke
akzeptiert die Wirklichkeit nicht voll und leugnet zugleich die
Wahrhaftigkeit des Traums. Sie reiht sich in das Vorhandene,
Erfreuliche, Effiziente ein: in die grundgesetzlich vorgeschriebene
Ordnung. In ihr sucht sie, zusammen mit allen anderen
Verantwortlichen, die Lösung. Nur, worin soll sie bestehen? In
der Zähmung des wilden Kapitalismus, in einer gesetzlich oder
sonst wie verwirklichten Milderung des entgrenzten, alles
beherrschenden Marktes? Hier und da hört man sogar von einer
"Humanisierung" des Kapitalismus reden, womit ungewollt
seine Barbarei festgestellt wird. Der Dritte Weg läge also in
einer grundgesetzlich geregelten, nicht ganz rücksichtslosen
liberaldemokratischen Politik und in einer Eingrenzung der Rückkehr
zum Manchester- Kapitalismus. Eine Politik des faktisch Möglichen
und ein Kapitalismus mit sozialdemokratischem Antlitz. In diesem
Sinne orientiert sich die vormals emanzipatorische Linke an der Form
namens Staat, genauer - an der besonderen Form des bürgerlichen
Verfassungsstaats und in Deutschland zunehmend an der Realität
der Verfassungs- und Machtstrukturen.
Im Erdgeschoss und im oberen Stock der Verfassungen.
Man vergesse nicht, daß Verfassungen eines bürgerlichen
Staates gewissermaßen auf zwei Stockwerken wohnen: dem
himmlischen Stockwerk der Werte und der Wertsysteme, der
Grundrechtsdeklarationen und der ideellen Beteuerungen - zum Beispiel
Volkssouveränität und Volksvertretung; und dem Erdgeschoss,
dem Stockwerk der Regelung und Regulierung der staatlichen Macht, der
so genannten Spielregeln. Idee oder Ideologie einerseits, die
wirkliche Seite des Staats andererseits: Es läßt sich
nicht ganz klären, auf welches Stockwerk die Linke sich
neuerdings begibt.
Wenn Hegel meinte, daß die Wirklichkeit es nicht mehr
aushält, wenn das Bewusstsein sich ändert, so können
wir heute eine Umkehrung feststellen. Das linke Bewußtsein hat
die Veränderung nicht aushalten können, die sich in der
Wirklichkeit, vom Markt bis zur politischen Form, ereignet hat.
Nun taucht in jüngster Zeit die Möglichkeit eines
ideologischen Auswegs auf, um die Hinwendung zum Verfassungsstaat zu
rechtfertigen. Auf der Suche nach einer höheren Legitimation des
mutierten Bewußtseins fand man oder erfand man den
"Verfassungspatriotismus. " Der Ausdruck wurde, soweit ich
mich erinnern kann, von Dolf Sternberger geprägt, zunächst
eine gute, dennoch bloße Vorstellung, also etwas nicht weiter
Präzisiertes. Inzwischen wurde versucht, die Vorstellung zum
Begriff zu bringen und ihr philosophische Würde zu verleihen.
Früher galt als Patriot derjenige, der die patria schützte
und verteidigte. Die Vaterlandsverteidigung geriet im Laufe der Zeit
in den Hintergrund, und an ihre Stelle treten Verteidigung und Schutz
eines neuen, gewiß sinnvolleren Guts: eben die konstitutionelle
und in dieser Form konstituierte staatliche Ordnung. Diese neue Norm
lieferte immerhin einer Bundesbehörde ihre ideelle Grundlage.
Zugleich erwies sich das Philosophieren für die Linken, die sich
sonst immer an der gesellschaftlichen Emanzipation orientiert hatte,
als tragfähiger pons asini, der die Kluft zwischen der ratio
emancipationis und der irrationalen Logik der mit eigenen
zweckmäßigen Regeln ausgestatteten Macht überbrückte.
Nur sieht vom Standpunkt der angepassten Linken die Perspektive
anders aus, zeigt sich doch der Verfassungsstaat als das, was in
Ermangelung der Möglichkeit radikaler Veränderung an
Positivem übrigbleibt: Er garantiert eine, durch Rechtskautelen
gezähmte, durchaus menschenfreundliche, vielleicht sogar
irgendwie alternativ verwendbare Form der politischen Macht.
Über diese Brücke gelingt der Übergang von der
Absage an das Kapital und seinen Staat zur Versöhnung mit dem
einen, zur Zustimmung zu dem anderen; von der Theorie und dem
Bewußtsein einer gesellschaftlichen Aufgabe zur Ideologie und
zum falschen Bewußtsein einer falschen Wirklichkeit. Falsch,
weil den Patrioten inzwischen die verfasste patria, dem Binnenmarkt
der Weltmarkt, dem Nationalstaat las "wilde", global
gewordene Kapital davonläuft. Und auch der Kritik der Politik
kommt der tradierte Gegenstand abhanden.
Die Situation ist heute nicht anders, als sie schon bestand bei
der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und beim
Aufstieg des Bürgertums zur Macht. Diesem Aufstieg verdanken wir
eine der erstaunlichsten politischen Leistungen der Geschichte. Mit
dem zumindest ideologisch gegebenen Durchbruch der Volkssouveränität
galt es, einer möglichen Anarchisierung der politischen
Verhältnisse entgegenzutreten. So wurde das institutionelle
Mittel erfunden, auf der einen Seite der zunehmenden Präsenz
abhängiger Massen, des Volks also (Ausweitung des Wahlrechts bis
endlich zum Frauenwahlrecht), Rechnung zu tragen, zugleich aber diese
Massen aus den politischen Entscheidungsprozessen fern zu halten. Im
repräsentativen System sorgt das Volk für den
Personalwechsel (Parteien und Personen) unter den Machtträgern,
deputiert ihnen dafür die Entscheidungsmacht. Dies alles in der
Rückkoppelung der Macht an klare, übersichtliche Regeln. Im
Gegensatz zu früher sind in diesem System die jeweils
wechselnden Oligarchien an Recht und Gesetz gebunden. Die Leistung
lag und liegt also in der Konstitutionalität, an die alle
politischen Machtträger gebunden bleiben: in einer
konstitutionellen Oligarchie, die wir uns angewöhnt haben,
Demokratie zu nennen, genauso wie wir die UdSSR Sowjetsystem nannten,
obwohl ein jeder wußte, daß die Sowjets zu einer Fiktion
herabgesunken waren.
Das neue Problem indes liegt im veränderten Verhältnis
von politischer Macht und Gesellschaft. Denn auch das globale Kapital
erfordert die Regelung der gesellschaftlichen Reproduktion, die um so
schwieriger ist, als wir zwar einen Weltmarkt, aber keine
Weltgesellschaft haben. Die Richtung dürfte allerdings konstant
bleiben: Eine Regelung muß gefunden werden, weil auch die
globalisierte Ökonomie, trotz des Deregulierungsgeredes, ohne
institutionell geordnete gesellschaftliche Verhältnisse nicht
auskommt. Wie zur Zeit des Manchester-Kapitalismus kann nur eine
solche Regelung die Selbstzerstörung des entgrenzten Marktes
verhindern und die Weiterexistenz der Gesellschaft garantieren. Die
"unsichtbare Hand" des freigelassenen Marktes reicht dazu
ebenso wenig aus, wie auch der Binnenmarkt alten Stils nicht
zurechtkam ohne staatliche Ordnung.
Wie ist aber im entfesselten Weltmarkt - ohne daß eine
Weltgesellschaft existierte - Weltpolitik möglich? Wie wird sich
in dieser Situation Herrschaft in eine institutionelle Macht gießen,
die all die alten menschenfreundlichen Rechtskautelen berücksichtigt
und das Prinzip der Volkssouveränität nicht als obsolet
erklärt, obwohl es ein Weltvolk gar nicht gibt? Dies ist sogar
nur eine Seite des Problems. Eine andere kommt hinzu, vor der die
politische Reflexion sich fürchtet - und die jede
Emanzipationsbewegung in eine arge Bedrängnis führt. Wir
haben es nicht nur mit globaler Ökonomie, mit den
Schwierigkeiten der sich so nennenden Industrienationen zu tun,
sondern auch mit dem Rest der Welt, mit der redundant population.
Zuvörderst zu den Klassikern. Daß der Kapitalismus den
Reichtum der Nationen schafft; galt nach Adam Smith als sicher. Hegel
stimme dem durchaus zu, fügte in der Rechtsphilosophie indes etwas
an, das weder Smith noch Ricardo gesehen hatten: daß sich die
Anhäufung der Reichtümer vermehrt, dies zugleich aber zur
"Vereinzelung und Beschränktheit der besondern Arbeit und
damit die Abhängigkeit und Noth der an dieser Arbeit gebundenen
Klasse" (§ 243) führt. Hegel entwickelte das Problem
weiter und kam zu dem Schluß, daß die bürgerliche
Gesellschaft bei dem Übermaß des Reichtums nicht in der
Lage ist, "dem Übermaß der Armut und der Erzeugung
des Pöbels zu steuern" (§ 245). Was Hegel Pöbel
nannte, waren die damals schon marginalisierten Massen. Hier hatte
Ricardo die richtige Erkenntnis: Der Kapitalismus schaffe zwar
Reichtum, aber auch redundant population. Im ersten Band des Kapitals
ging Marx darauf ein, zollte Ricardo das ihm gebührliche Lob,
meinte jedoch, dies sei eine zyklische Erscheinung. Beim
Wiederaufschwung der Kapitalakkumulation würde die überflüssige
Bevölkerung vom Produktionsprozess wieder absorbiert werden.
Dabei hatten alle vier Klassiker, Smith, Ricardo, Hegel und Marx,
verständlicherweise nur Europa im Sinn. Der Rest der Welt kam
für sie - kein Skandal, vielmehr verständlich - einfach
nicht in Betracht.
Wir können heute feststellen, daß Ricardo Recht
behalten hat. Überflüssige Bevölkerung gibt es im Rest
der Welt in Milliardenhöhe. Sie fällt aus den
Annehmlichkeiten des Weltmarkts heraus, gerät gleichwohl unter
die Folgen der totalen Subsumtion ökonomisch-gesellschaftlicher
Prozesse, unter die "Gesetze des Marktes" und die
Erfordernisse der Akkumulation. Der Rest der Welt stellt ein Problem
dar, dem wir wohl mit noch so ausgedehnten Sammlungen von Brot für
die Welt nicht beikommen.
Die überflüssige Bevölkerung ist eine
Dauererscheinung
Die Frage ist, ob diese Überflüssigen eine Negation des
sie außen vor lassenden Systems sein können. Sie sind
jedenfalls - mögen sie auch noch im Zustand der Passivität,
der Resignation und der ohnmächtigen Geduld verharren weder
integriert noch integrierbar. Sie stehen vor den Toren des ökonomisch
gesicherten und gesellschaftlich verteilten Wohlstands. Der Weltmarkt
braucht sie höchstens als Ressourcenlieferanten, aber nicht als
Subjekte gesellschaftlicher und ökonomischer Tätigkeiten.
Wäre die redundant population nur im Rest der Welt zu finden,
so könnten die Machtmittel des Nordens die Schwierigkeiten
meistern. Inzwischen aber hat der Rest der Welt, der "Süden"
den industrialisierten Norden eingeholt. Im ricardoschen Verstande
des Wortes findet sich auch bei uns zu Hause überflüssige
Bevölkerung in der landeseigenen Art der Arbeitslosen. Die
Arbeitslosigkeit - hört man hin und wieder - sei durch
technische Prozesse und Veränderungen in der industriellen
Produktion und im Dienstleistungssektor "strukturell bedingt",
und das heißt nichts anderes als: keine zyklische Erscheinung,
sondern ein Dauerzustand. Ricardo also und nicht Marx.
Die politische Form des bürgerlichen Staats mit seiner
Symbiose von gesellschaftlichen, ökonomischen und
berufspolitischen Führungsgruppen gründete sich auf der
stabilen Koppelung von Binnenmarkt und National-Staat. Löst sich
die Koppelung auf, so geht die Wirklichkeit des globalen Marktes
neuen organisatorischen Formen entgegen. Eines Personalwechsels in
der Politischen Klasse bedürfte es dabei nicht, denn das
Personal bleibt verfügbar für jeden Formwechsel. Es wird
sich - wieder einmal - eine "Neue Ordnung" etablieren,
ausgestattet mit noch ordentlicheren Machtstrukturen. Eine Verhärtung
des objektiven Zwangscharakters der Gesellschaft steht somit in
Aussicht. Dies schließt nicht aus, daß anstelle der
Willkürherrschaft eine neue geregelte Verfassung treten wird -
wieder mit der erbaulich-himmlischen Seite der Deklarationen und der
irdischen der Spielregeln. Die Errungenschaften bürgerlicher
Revolutionen brauchen nicht verloren zu gehen. In dieser möglichen
neuen Verfassung werden sie ihren gesicherten Platz haben, als blaue
Blume am Knopfloch des Zwangsjacketts.
Nicht nur der Markt weitet sich aus, sondern auch die Aporie: im
Denken, Tun, im Zusammenleben. Der Emanzipation stehen harte
Bedingungen und schwere Zeiten bevor. Und die mühselige Arbeit
des Maulwurfs. In der Aporie müssen die Maulwürfe einen
entgegengesetzten Orientierungspunkt haben. Hier gilt es, die Utopie,
die viel geschmähte von der Assoziation der Freien und Gleichen
aus der Verbotszone zu befreien, in die interessierte Ideologen der
Ideenlosigkeit, die Vertreter der zweckrationalen Vernunftlosigkeit
sie gedrängt haben. Die Maulwurfsarbeit wird untergründig
und mühsam bleiben. Sie kann auf die Überflüssigen im
Lande hoffen, bei denen durchaus Klarheit zu erreichen ist über
die Verbindung von Freiheit und Gleichheit mit ihren unmittelbaren
Interessen. Für die Weltüberflüssigen sind Freiheit
und Gleichheit ein materielles Ziel: Freiheit als Befreiung von
Hunger und Not, Gleichheit als gleicher Zugang zu den Angeboten des
Weltmarktes. In diesem Ziel liegt für sie der Sinn der
Emanzipation. Wie schon Hegel kryptomaterialistisch sagte: Haben die
Leute genügend Nahrung und Kleidung, kommt das Reich Gottes von
alleine.
Die Orientierung an der Utopie und am Prinzip Hoffnung ergänzt
sich durch ein anderes Prinzip, das jeden Neubeginn kennzeichnet und
aus dem alles Leben entsteht - das Prinzip Negation. Es wäre
schlimm, die radikale Form der Verweigerung ohne utopischen
Hintergrund als Rückzug aus der Gesellschaft zu verstehen, als
Einkehr in die Geborgenheit des individuellen Gewissens, das sich im
Lamentieren beruhigt. Die Verweigerung soll vielmehr in die
gesellschaftliche Wirklichkeit eintreten, dort als das klare,
bewußte, aber allemal wirksame Nein gegen die falsche
Entwicklung handeln. Maulwurfsarbeit ist das genaue Gegenteil der
Privatisierung des Protestes.
Was soll Utopie in der Aporie? Die Orientierung an der Utopie ist
der einzig reale Ausweg aus der Inhumanität, in der sich die
Weltgesellschaft befindet.
Quelle: Die Zeit, Nr. 8, 17.02.2000


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