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Beiträge zur Politik  









Johannes Agnoli

"Man hat oft von mir den falschen Eindruck, ich sei ein Barrikadenkämpfer, aber im Grunde bin ich ein sehr nüchtern denkender Mensch."

(Ein Gespräch aus dem Jahre 1997.)

"Die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen (Marx) kann nicht als Gesetzesvorlage, weder oppositioneller noch regierender Fraktionen, in den Bundestag gebracht werden."

Johannes Agnoli

Johannes Agnoli, ehemaliger Lehrstuhlinhaber fuer politische Theorie am Otto-Suhr-Institut Berlin, ist der Verfasser von Klassikern der 68-Bewegung wie "Die Transformation der Demokratie" und - in Zusammenarbeit mit Peter Brueckner - "Der Staat des Kapitals". Sein neuestes Buch, "Subversive Theorie: Die Sache selbst und ihre Geschichte" erschien 1996. Im Gespraech durften wir feststellen, dass die besten und angemessensten Antworten auf diese Welt notwendige und kluge Fragen sind, die nur wir mit unserem Wissen und Zutun und die Zeit selbst loesen werden.

Q. Immer wieder wird ueber das Verschwinden des Produktionssektors diskutiert, ueber die Abschaffung des Arbeiters, des Produzenten, bis hin zur These, dass sich aufgrund seiner Entwicklung der Kapitalismus selbst abschafft. Herr Agnoli, wenn sie an das Krankenbett des Kapitalismus treten, welche Diagnose stellen Sie? Wieviele Tage geben Sie ihm noch?

A. Dass der Kapitalismus sich selbst kaputt machen koennte, hat Marx in den Grundrissen behandelt, und zwar genau unter der Perspektive der technischen Entwicklung. Er schreibt an einer Stelle: In dem Moment, in dem die Maschinen den Arbeiter ersetzen, was macht dann der Kapitalismus, wenn er seine Akkumulation gerade aus der Mehrwertgewinnung her hat, deren einzige Quelle die lebendige Arbeit ist. Der historische Kapitalismus ist ein Kapitalismus der industriellen Produktion gewesen. Wenn nun die industrielle Produktion aufhoert, dann tritt eine neue Produktionssphase ein, und dieser neuen Produktionssphase hat sich der Kapitalismus schon laengst bemaechtigt. Die ganze Informatik, die ganze sogenannte virtuelle Arbeit, die so virtuell gar nicht ist, die ist schon in den Haenden des Kapitals, das heisst, das Kapital macht seine Interessen, seine Profite anhand eben dieser neuen Formen der Technologie. Im Gegenteil: Diese Technologien sind guenstiger fuer das Kapital, und wir erleben in der Tat zur Zeit dessen Entgrenzung. Schon die Sprengung der Binnenmaerkte hat zu dem Phaenomen der totalen Subsumtion unter die Gesetze der Akkumulation gefuehrt.

Heute sagt man einfach, alles wird von den Gesetzen des Marktes bestimmt, das heisst also, die Erfordernisse der Akkumulation bestimmen alles. Es ist doch nicht gesagt, dass das Kapital genoetigt ist, seine Profite durch die Realisierung des industriellen Mehrwerts auf dem Markt zu erzielen. Es kann den Mehrwert realisieren, es kann Profite verbuchen auf dem Markt auch durch Produkte, die nicht mehr von Arbeitern produziert worden sind. Mit anderen Worten, die Auffassung, dass der Kapitalismus zu Ende geht, wenn der Fordismus abgeloest wird, ist eine Verkuerzung. Das Kapital wird im Grunde verkuerzt auf eine reine industrielle Funktion. Zu meinen, der Kapitalismus wuerde von selber zu Ende gehen, bedeutet einen Rueckfall in das rein oekonomistische, deterministische Denken. Denn der Kapitalismus geht nicht von selbst zu Ende. Das Kapital hat eben neue Wege der eigenen Akkumulation gefunden. Wenn wir an die Weltlage denken, an die Milliarden von Leuten, die im Elend leben, muessen wir uns fragen, ob wir nicht in Richtung einer Gesellschaft marschieren, in der nicht mehr der Klassenunterschied zwischen Kapitalisten und Arbeitern weiterbesteht, sondern in der wir auch allmaehlich in den alten urspruenglichen Widerspruch von Arm und Reich geraten. Denn die Massen der Armen in der Welt sind ausserhalb der Kapitalbewegung und der Kapitalverhaeltnisse.

Q. Die lebendige Arbeit nimmt im Produktionsprozess ab, sowohl im industriellen, als auch im virtuellen Sektor..

A. Jedenfalls sollte man jetzt wissen, dass der Begriff des Proletariers, der seine Arbeitskraft verkauft, seine Gueltigkeit nicht nur in der Fabrik findet, denn auch das Maedchen im Laden verkauft seine eigene Arbeitskraft. Das heisst also, die Ausweitung auf den tertiaeren Sektor bedeutet keineswegs, dass die Klassengrenzen verschwinden, nur ist die sogenannte Klassenzusammensetzung eine andere. Und da kann vielleicht Negri kommen mit seiner Rede von dem gesellschaftlichen Arbeiter. Das ist ein Problem, das in Italien sehr hart diskutiert wird, naemlich ob es eben noch Arbeiterzentralitaet gibt. Und in der Tat scheint es so zu sein, dass diese Zentralitaet wegfaellt.

Auf der anderen Seite aber, ist die virtuelle Produktion nur terminologisch virtuell. In Wirklichkeit findet sie nach wie vor in Fabrikstaetten statt. Man muesste die Probe aufs Exempel machen. Lassen wir den virtuellen Sektor einen Monat lang streiken, und lassen wir den industriellen Sektor fuer einen Monat lang streiken, zu dem uebrigens auch das Transportwesen gehoert, und dann werden wir sehen, was virtuell und was reell ist. Dann merken wir, dass wir nach wie vor eine industrielle Gesellschaft haben. Nur dass die Industrie die Grenzen der Fabrik gesprengt hat. Sie hat ihre eigene Gesetzmaessigkeit, ihre eigene Regelhaftigkeit ausgeweitet auf den ganzen Markt, das heisst auch auf den tertiaeren Sektor.

Q. Wer ist dann aber das widerstaendige, revolutionaere Subjekt, wenn es in den unterschiedlichsten Bereichen existiert und sich nicht besonders einig ist, an welchem Strang es denn ziehen soll?

A. Nach dem Ausbruch Ende der Sechziger Jahre besonders nach dem heissen Herbst in Italien gehoerte es zur intelligenten Strategie des Kapitals, genau das aufzuloesen: die sich konstituierende Einheitlichkeit des Bewusstseins in den Fabriken. Da hat man die "verstreute Fabrik" erfunden. Die Verlagerung der Produktion in die Privathaeuser. Die Textilindustrie in Prato war in der Sache federfuehrend. Jeder Arbeiter hat zu Hause seine Maschine bekommen, er arbeitete zu Hause und abends wurde das Produkt in die ehemalige Fabrik gefahren. Dadurch entfiel gerade die gesellschaftlich materielle Bedingung der Klasseneinheit

Q. ... die Kollektivitaet ist verloren gegangen.

A. Genau. Und das haengt auch mit der heute zunehmenden ruinoesen Individualisierung des Lebens zusammen. Die Individualisierung ist im Grunde eine sehr starke ideologische Waffe. Man redet immer noch von Solidaritaet. Genauso davon, dass man die Arbeitslosigkeit abschaffen will. Eine toerichte Vorstellung. Es ist toericht von der Linken, von der Forderung nach Wiederherstellung der Vollbeschaeftigung auszugehen, statt von der Erkenntnis, dass das nicht mehr moeglich ist Die massenhafte Marginalisierung ganzer Gesellschaftsschichten ist eine Realitaet, von der man auszugehen hat. Das ist die strategische Linie, die zu verfolgen ist. Auch in bezug auf die Suche nach dem sogenannten revolutionaeren Subjekt. Wahrscheinlich war schon die Parole "revolutionaeres Subjekt" nicht ganz richtig. Das "revolutionaere Subjekt" suggeriert nicht etwa Kollektivitaet im Sinne des Bewusstseins, sondern es suggeriert eine mystische Groesse. Da muss ich auf Karl Marx rekurrieren, der in einem Brief an Engels schrieb: "Das Proletariat existiert nicht. Es existieren die Proletarier". Davon muessen wir ausgehen. Ich habe seinerzeit einen Begriff gepraegt, der damals sehr stark angegriffen wurde. Ich sprach damals von den Fuehrungsgruppen und von der abhaengigen Masse. Man hat mir damals vorgeworfen, dieses Wort "abhaengige Masse" wuerde die Klassenterminologie sprengen, oder nicht beruecksichtigen. Aber das genau ist der Punkt. Wir haben es mit den Massen der Abhaengigen zu tun und dem Problem, wie man diese Massen der Abhaengigen, die nicht nur in sich zerrissen, sondern auch untereinander zerstritten sind, vereinheitlichen kann. Ich weiss auch nicht, wie man das macht. Ich weiss nur, dass das eine Aufgabe ist, die man in Angriff nehmen muss, und zwar ohne auf diese alte, voellig ueberholte Position zurueckzufallen, man muesse fuer Vollbeschaeftigung kaempfen. Dafuer soll die Bourgeoisie sorgen, wenn sie gefaehrdet wird. Wenn in Italien die Gewerkschaften eine halbe Million Leute in Rom mobilisieren, um gegen die Regierung zu protestieren, weil diese die Arbeitslosigkeit nicht abschafft, ist das vollends laecherlich. Denn es ist das Kapital, in dessen Interesse es liegt, Arbeitslosigkeit zu schaffen unter dem Stichwort Globalisierung. Was bedeutet Globalisierung? Abgesehen von dem realen Prozess, ist die Globalisierung fuer die Kapitalseite eine ganz ernstzunehmende Waffe, um in Europa die Arbeiter davon zu ueberzeugen, dass Arbeitslosigkeit unvermeidlich ist, und dass die Loehne niedrig sein muessen. Von wegen das Kapital geht zu Ende. Solange der Markt funktioniert, geht das Kapital nicht zu Ende. Bleibt die Frage, fuer wen produziert wird. In der Geschichte haben wir die Erfahrung, dass die Produktion von Guetern nicht zur Voraussetzung hat, dass diese Gueter massenhaft verkauft werden. Die Reichen, die diese Gueter kaufen, die Wohlhabenden, auch die wenigen, die einigermassen leben koennen, reichen aus, um die fuer den Markt produzierten Gueter aufzukaufen. Das reicht fuer das Kapital aus. Wenn tatsaechlich das massenhafte Elend dazu fuehren wuerde, dass das Kapital nicht mehr in der Lage ist, Profite auf dem Markt zu realisieren, warum ist die Industrieproduktion dann in Ausweitung begriffen? Kein Kapital produziert Sachen, die nicht gekauft werden.

Q. Wie soll sich denn die radikale Linke der sozialen Frage annehmen?

A. Wenn wir realstrategisch denken wollen, muessen wir von den Realitaeten ausgehen und nicht von Vorstellungen, die wir haben. Eine Wunschvorstellung ist zum Beispiel, dass der Sozialstaat nicht abgebaut wird, eine Forderung, die nicht etwa vom Kapital gestellt wird, sondern im Grunde mit der Reduzierung der Arbeitskraefte zusammenhaengt. Wir muessen unsere Energie nicht dafuer verschwenden, massenhaft gegen den Sozialabbau zu demonstrieren, sondern wir muessen den Sozialabbau zur Kenntnis nehmen, und von ihm aus eine Linie entwickeln, wie man nicht etwa den Sozialabbau bekaempft, sondern wie man das ganze System bekaempfen kann. Es ist nicht die Aufgabe einer sich als radikal verstehenden Linken, den Sozialstaat zu verteidigen. Obwohl es durchaus richtig ist, fuer eine bessere Qualitaet des Lebens der abhaengigen Massen zu kaempfen. Aber man darf nicht von der Idealvorstellung ausgehen, es koenne alles beim Alten belassen werden. UEberlassen wir ruhig den Kampf gegen den Sozialabbau den Gewerkschaften, so sie dazu bereit sind.

Beim Sozialabbau werden nicht nur die Arbeiter getroffen, sondern auch die Mittelschichten, denn die sind auch Rentner. Jedoch sind die Mittelschichten immer ein gefaehrliches Element, sie haben nur zweimal versucht, sich als Klasse zu konstituieren. Das eine Mal bei den Jakobinern, das zweite Mal bei den Faschisten, beide Male sind sie gescheitert. Das erste Mal glorreich, das zweite Mal weniger glorreich. Diese Zwischenschichten haben das gefaehrliche Moment, dass sie politisch unzuverlaessig sind und nach rechts tendieren, weil sie ideologisch von der Bourgeoisie infiziert sind. Die Petit-Bourgeoisie orientiert sich an der Bourgeoisie, weil der Petit Bourgeois hofft, ein Bourgeois zu werden. Das ist der Erfolg von Berlusconi. Wenn Berlusconi den Kleinhandel kaputt macht, warum waehlen die Kleinhaendler Berlusconi? Weil Berlusconi als Staubsaugervertreter angefangen hat, er ist der Mann, der es in der amerikanischen Ideologie vom Tellerwaescher zum Bankier gebracht hat. Berlusconi ist ein Symbol der Petit Bourgeois, die so gerne Bourgeois sein moechten und nicht merken, dass sie in Wirklichkeit proletarisiert werden. Ist es nicht moeglich, sich auch da einzuschalten? Gramsci hat in seiner ersten Faschismusanalyse erwaehnt, dass die Arbeiterbewegung der zwanziger Jahre nicht in der Lage gewesen sei, den kleinbuergerlichen Protest gegen das Kapital zu verstehen, die sogenannte antikapitalistische Sehnsucht des linken nationalsozialistischen Fluegels der Gebrueder Strasser. Die Kleineigentuemer verlieren also ihre Existenzgrundlage. Waere es nicht moeglich, dass diese antikapitalistische Sehnsucht nicht wieder nach rechts ausschlaegt, sondern dass das Elend der Kleinbuerger gekoppelt wird mit der Revolution des Gebrauchswerts gegen den Tauschwert? Denn was uns alle so in die Zange nimmt, ist die Verallgemeinerung des Tauschverhaeltnisses, das ist es, was uns selbst zur Ware macht.

Q. Auch die autonome Linke diskutiert mittlerweile die soziale Frage und moechte ihr Ghetto verlassen...

A. Kommen wir zunaechst auf die Position der Verweigerung: Worin liegt der eigentliche Fehler? Im Grunde machen die Autonomen die buergerliche Zuordnung von Staat und Gesellschaft mit. Indem man sich der Gesellschaft verweigert, verliert man die Moeglichkeit, auf die Gesellschaft einzuwirken. Man kann nicht von aussen auf die Gesellschaft einwirken. Man kann, Mao sei selig, die Hauptquartiere von aussen bombardieren, aber die Gesellschaft muss von innen gesprengt werden. Und wenn du dich der Gesellschaft verweigerst, aussteigst, kann sich das Kapital ins Faeustchen lachen. Wenn die Stoerelemente aussteigen, hat die Gesellschaft von ihnen nichts mehr zu befuerchten und sie sind dann Gegenstand polizeilicher Massnahmen, mehr nicht. Objekte des Verschweigens.

Q. Bleibt die Frage: Welches praktische Handeln kann heute aus der Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen hervorgehen?

A. Die Handlungsperspektive hat zwei Voraussetzungen: Erstens, dass man nicht von den eigenen Zielvorstellungen ausgeht, sondern von der genauen Analyse der Wirklichkeit; etwas, was inzwischen verloren gegangen ist. Natuerlich kann man ritualmaessig am 1. Mai Fensterscheiben einschlagen. Aber Fensterscheiben einschlagen bedeutet, die Produktion der Glaserei anzukurbeln, mehr nicht. Nicht umsonst hat der Republikanische Club von der Glaser-Innung Berlin Anfang der siebziger Jahre tausend Mark als Spende bekommen. Man kann gewissermassen die Berechtigung der Polizei bestaetigen und ritualmaessig zeigen, dass man da ist. Man ist in Wirklichkeit nicht da. Um wirklich handelnd einzugreifen, muss man wissen, wie die Gesellschaft aussieht. Man muss sich fragen, was zentral ist. Anstatt sich die Koepfe zu zerbrechen, wer denn nun das revolutionaere Subjekt ist, sollten wir uns fragen: wer lebt schon mehr oder weniger im Elend, und wie reagiert er darauf? Welche Probleme hat er? Wie kann man diese Leute erreichen? Bestimmt nicht mit klugen Bemerkungen ueber die Moeglichkeit einer neuen Produktionsweise, viel eher muesste man zeigen, wie Marx schreibt, wie Ideen sich blamieren, wenn sie nicht mit den Beduerfnissen zusammenkommen. Wir haben alle wunderbare Ideen, und wir fragen uns nicht: entspricht das den Massenbeduerfnissen.

Q. In einem Papier der "Autonomen KleingaertnerInnen" aus Berlin wurden 1500 DM Grundrente und die hundertprozentige Besteuerung aller Einkommen ueber 5000 DM gefordert. Eine provokative Forderung?

A. Ist das eine echte Provokation oder ein Kampf gegen Windmuehlen? Die Provokation ist wahrscheinlich die taetige Seite der Maulwurfarbeit. Aber ist das die richtige Provokation, oder lachen selbst die Armen darueber? Und ausserdem: Ich muss sagen, wenn Einkommen ueber 5000,- DM zu hundert Prozent besteuert werden, was mache ich, ich habe eine Frau, die in Berlin lebt, in ihrer eigenen Wohnung, ich habe zwei arbeitslose Kinder, wo soll ich denn da hinkommen?

Q. Sie bekaemen dann eine existenzsichernde Grundlage...

A. Das ist etwas anderes. Das ist eine Moeglichkeit, nicht die Besteuerung ueber 5000 DM, das ist ja zum Lachen! Die Forderung einer Grundrente geraet in Konflikt mit dem Sozialabbau: Das kann man verstaendlich machen, ohne sich auf 500 oder 1500 Mark zu kaprizieren. Man kann die Forderung stellen, dass diese Gesellschaft reich genug ist, um das zu ermoeglichen. Das ist eine moegliche Provokation. Aber selbst da ist diese Provokation nicht etwa in der Form einer Forderung an die Parteien zu machen, weil die Parteien vom Budget ausgehen, und das Budget ermoeglicht das nicht. Wenn das moeglich waere, dann wuerden sie es wahrscheinlich tun, denn der soziale Friede liegt auch im Interesse des Kapitals. Schon Ende der 60er, Anfang der 70er hat sich als Illusion erwiesen, was ich damals dachte, dass naemlich der soziale Friede in Europa zerbrochen sei, aber das war ein Aufflammen, das in sich zusammenfiel. Jetzt erhaelt die Frage des sozialen Friedens eine ganz andere Dimension, weil wir diese Massen-Marginalisierung haben. Und da muss man sich fragen, ob das ein realistischer Ausgangspunkt ist, dass der soziale Frieden bruechig geworden ist. Ob man da provokativ eingreifen kann oder soll. Aber das muss von Land zu Land analysiert werden. Und es kommt noch eines hinzu: Ich weiss nicht, ob die gemeinsame europaeische Waehrung kommt. Aber wenn sie kommt, haben wir uns ueberlegt, wir Linken, was dann passiert in Europa, mit Gewerkschaften, die immer noch national organisiert sind, im Gegensatz zu einem Kapital, das ueberhaupt nicht mehr national arbeitet? Und da gibt es bei uns Leerstellen. Wir sind immer daran gewoehnt, von bestimmten Vorstellungen auszugehen, und uns nicht die Frage zu stellen, wie wir uns verhalten sollen, wenn die Lage anders ist, als wir uns gedacht haben. Wirtschaftlich gesehen, bedeutet die gemeinsame Waehrung naemlich zunaechst eine oekonomische Staerkung fuer Europa. Wenn man bedenkt, dass vorlaeufig im Export, die USA weltweit mit 600 Milliarden Dollar an der Spitze liegt, gefolgt von der BRD mit 500 Milliarden, und dann Japan, dann Frankreich und Italien. Wenn aber Deutschland, Frankreich, Italien und England zusammen gehen, dann ist Europa wirklich eine Groesse. Und davon muessen wir ausgehen. Vor allem erhaelt da auch die Globalisierung noch eine ganz andere Dimension. Wie reagieren dann die europaeischen Arbeiter, wenn die europaeische Wirtschaft so ueberstark wird, und obwohl das europaeische Kapital immer staerker wird, die Arbeitslosigkeit aber nicht aufhoert? Wie sieht es dann in der Gesellschaft aus? Das ist auch etwas, was ich seit laengerer Zeit sage, und immer abgelehnt wird. Ich meine, dass das Kapital keine eigenzyklischen Krisen mehr kennt, sondern eine endemische Krise. Ich sehe das Kennzeichen der endemischen Krise darin, dass die Akkumulation zwar wieder angekurbelt wird, die klassische Begleiterscheinung jedoch, naemlich der Rueckgang der Arbeitslosigkeit, ausbleibt. Insofern ist die Krise heute anders als vor 50 oder 100 Jahren, da begann die industrielle Produktion zu steigen und mit der Steigerung der Produktion kam wieder die Vollbeschaeftigung.

Q. Kommen wir zur Frage der Internationalitaet. Momentan sind die Bauarbeiter in der BRD sauer auf die polnischen Bauarbeiter in Berlin, es gibt keine Gemeinsamkeiten, obwohl man - von aussen draufgeschaut - sagen muesste, alle muessten am gleichen Strang ziehen.

A. Ich habe vor langer, langer Zeit geschrieben, dass der deutsche Arbeiter in Bozen dem italienischen Arbeiter in Turin naeher stuende, als dem deutschen Bischof in Bozen. Das ist einfach falsch! Das war eben Illusion. Wir haben uns um die Internationalitaet der abhaengigen Massen nicht gekuemmert, weil wir davon ausgingen, dass es eine internationale Solidaritaet der Arbeiter ohnehin gibt sowie Nationalkapitalien, die derart in Konkurrenz untereinander sind, dass es zum Krieg fuehrt. Und jetzt stellt sich heraus, dass der naechste Krieg der Krieg der deutschen Bauarbeiter gegen die polnischen Bauarbeiter sein wird. Gehen wir davon aus, dass es diese Internationalitaet auf der linken Seite nicht gibt. Also muessen wir uns ueberlegen, nicht wie wir sie etwa wiederherstellen, sondern wie wir ueberhaupt einige Schritte in diese Richtung machen koennen. Bisher machen wir nichts, ausser die Internationale zu singen.

Q. Im Juni werden aus ganz Europa Erwerbslose nach Maastricht marschieren...

A. Die Arbeitslosen interessieren sich in puncto Maastricht hoechstens dafuer, ob die gemeinsame europaeische Waehrung fuer sie zu einer Besserung der Erwerbslosenunterstuetzung fuehrt. Das ist die Frage, die sie interessiert, sonst gar nichts. Die Erwerbslosen hier sind kein revolutionaeres Subjekt, ein Subjekt zwar, aber in erster Linie ein gesellschaftliches Subjekt. Da ist eine Potentialitaet; und einige kuemmern sich um diese Potentialitaet, indem sie ihre Maersche gegen Maastricht organisieren. Eine ausgesprochen oligarchische Konstruktion also, die die Massen ueberhaupt nicht tangiert. Fuer Maastricht interessiert sich die Boerse, interessiert sich das Kapital, interessieren sich die Maerkte, aber die Erwerbslosen? In Italien kenne ich viele Arbeitslose, aber kein Mensch kuemmert sich um Maastricht.

Q. In Deutschland ist es anders, weil in einem nationalen Kontext darueber diskutiert wird...

A. ...wobei interessanterweise die Deutschen anscheinend Angst davor haben, dass der mustergueltige deutsche Staat an Autoritaet verliert, waehrend im Rest-Europa die Angst herrscht, dass dieser mustergueltige deutsche Staat hegemonial fuer ganz Europa wird. Gut, es ist eine alte Parole der Gewerkschaften, das Europa des Kapitals oder das Europa der Gewerkschaften, der Arbeiter. Die Frage ist falsch gestellt heute. Das Europa des Kapitals ist das Europa der kapitalistischen Gesellschaften. Natuerlich! Denn wir haben keine anderen. Und die Arbeiter sind ein Teil dieser kapitalistischen Gesellschaft. Ob sie die Negation der Gesellschaft waren, sind oder noch einmal sein werden, das haengt auch zum Teil davon ab, ob sich eine andere Form der Verloetung finden wird. Frueher sprach man von der moeglichen Verbindung von Intellektuellen und Arbeitern, heute spalten sich die Abhaengigen in Habenichtse und Habende, in jene, die Arbeit haben und ein gesichertes Einkommen und die, die entweder keine Arbeit haben oder allemal ein prekaeres Einkommen. Und das gilt es zu verhindern Aber es bestuende doch dann die Moeglichkeit, ueber eine existentielle Grundsicherung als politische Forderung auch die eigene Existenz von der Verwertung der Arbeitskraft abzukoppeln und genau das zu propagieren. Du bist gewerkschaftlich taetig? Ein Vorschlag: Ein Streik der Arbeiter fuer die Einfuehrung eines Existenzminimums, einer Garantie fuer die Arbeitslosen. Ein Streik der Arbeiter dafuer. Das heisst handelnd eingreifen.

Q. Falls aus dem Streik nichts wird, betrachten Sie mikropolitische Optionen als reine Verlegenheitsloesung?

A. Nun, das Rationale an der Mikropolitik liegt nicht im Rueckzug ins Private, sondern in der Tat darin, dass die Mikropolitik momentan die einzig moegliche Aktionsform ist. Die Makropolitik ist nicht aktuell. Aber eine Mikropolitik, die die Makropolitik aus den Augen verliert, ist eine Freizeitbeschaeftigung, mehr nicht. Das heisst also, wird diese kleine Politik im kleinen Kreis gemacht, hat sie nur das Ziel, die Sauberkeit, die Reinheit, des kleinen Kreises aufrechtzuerhalten, oder hat sie das Ziel, den kleinen Kreis zu verlassen? Ich habe manchmal die Befuerchtung, den Leuten genuegt das Bewusstsein, anders zu sein als die Fussballanhaenger.


Quelle: Dritte Hilfe, Hilfe 3

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